Sagen sind Bilder einer mythisch-unerklärten Vergangenheit Sie spiegeln den Volksglauben der Vorfahren. In den Motiven zeigen sich Fragmente des mythologischen Erinnerns, eines fernen mythologischen Verständnisses. Der Sagenschatz im Oberland, speziell in den abgelegnen Gegenden, lebte lange Zeit ohne grosse Korrekturen. Freude am Erzählen und Tradition haben in den Täler viele mythologische Bilder bewahrt. Auch wenn sich Motive an vielen Orten ähnlich sind, im Lauterbrunnental haben sie oftmals eine Kraft, welche uns bis in die vorfernen Zeiten blicken lassen. Ich habe Sagen aus der Sammlung von Hans Michel kommentiert. Es zeigte sich, das zwei Mythologische Stömungen miteinander ringen. Die klassische, griechisch-orientalische Mythologie, aus welcher die Kirchengeschichte, die Christianisierung und Bildung hergeleitet wird. Ebenso stark aber weniger offensichtlich, ist der Nordisch-Germanische Strom. Die Sagenmotive leiten sich her aus den Erzählungen der Edda, der keltischen Strömung und vor allem der germanischen Mythologie her. Der Kulturkampf zwischen dem alten Glauben und dem neuen Glauben, liess viele Mythenbezüge verschwinden, sie wurden verteufelt. Im evangelisch geprägten Oberland fehlt, wie in katholischen Gegenden, die Umwandlung der Naturgeister in Heilige und die des Matriarchats in Mariaverhehrung. Die Oberländersagen, speziell die aus Sammlung von Lauterbrunnen, wirken hölzig und kantig. Sie sind nicht durch die "geschliffenen" Umwandlungen in Heiligengeschichten der Klöster und Priester verändert worden. Sicher, nicht alles an den Sagen ist alt und mythisch. Auch sie wurden ausgeschmückt und modernisiert. Das macht sie "menschlicher". Sie sind wie verborgenen Schätze, welche es zu heben gilt. Vieles wird stimmen, anderes ist Spekulation. Der Vergleich mit den unterschiedlichen Mythologien, dem Volksglauben und den alten Motiven lässt eine Zeit erahnen, in welcher alles beseelter, geheimnisvoller und gleichzeitig bedrohlicher war. (martin niedermann) Sagen gesammelt von Hans Michel, kommentiert von Martin Niedermann Eine Mühle unter dem Eis Oben an der Jungfrau, zwischen den breiten Zungen des Giessen- und Guggigletschers, wo jetzt ewiger Schnee, Wildflühe und Geröll sind, war einst ein friedliches Bergdörflein.Am klaren Bach klapperte das Mühlenrad, und wo heute die Eisströme fliessen, tönten Schellen und Treicheln und weideten friedlich die Kühe. Ein Zwerglein, das Chnopfli, wie es die Leute nannten, war Ziegenhirt und trieb allmorgendlich die glöckelnde Herde in die Höhen, von wo die gemsfarbenen Tiere am Abend sattgefressen und mit vollen Eutern zurückkehrten. Die schoflen Bergbauern aber gaben dem Geisshirten als Entlöhnung kaum das nötige Korn zum Lebensunterhalt. Den Müller, den drückte der Geiz; jeden, der ihm einen vollen Kornsack brachte, betrog er schon zum Wägen, indem er die feine Kunst verstand, mit den Händen die Wage zu seinen Gunsten zu tippen, dass es der Kunde gar nicht inne wurde. Hundert und hundertmal hatte dieser schlaue Müller seine Finger verkauft. Er war ein echter Lügenfechter und gab selten den vollen Mehlertrag zurück. In einem Herbst kam das Zwerglein unter einer Kornbürde zur Mühle herangekeucht. Der Müller glaubte, das Chnopfli, das könne er noch gründlicher über den Löffel halbieren als alle anderen, und er gab ihm einen Sack voll Mehlstaub zurück. Das Zwerglein sagte kein Sterbenswort; es stieg mit dem Sack auf der Schulter leichten Fusses hinauf bis auf den Gipfel der damals schneefreien…